11 Jun Vom Punk mit No Future Attitude zum Chief Visionary Officer
In meinem Buch „Achtet auf die Möwen“ habe ich einen Atlas für Aufmüpfige und Aufbrüchige skizziert. Ein wichtiger Log-Buch-Eintrag erzählt von der von mir hoch verehrten „Frau Doktor“ und ihrem Haus Neumann. Ein krasser Gegenpol zu meinem Leben mit DIY-Toilette, aber ein Ort, an dem ich gelebte Toleranz lernte. Ein Auszug aus dem Skript.
In den Nächten Berlins der frühen 1990 Jahre lernte ich eine junge, wilde und sehr hübsche Punkrockerin namens Eike Neumann kennen. Sie lief als Modell für Jean Paul Gaultier über den Laufsteg, fand aber ihre wahre Berufung als Schnittdirektrice für Film-, Fernseh- und Theaterproduktionen.
Ihr Talent hat sie mittlerweile etwa in „Die Bourne Verschwörung“, „John Wick“, „Monuments Men“, „Babylon Berlin“, „The Matrix Resurrections“, „Der Pianist“, „In 80 Tagen um die Welt“, „Enemy at the Gates“ oder „V wie Vendetta“ unter Beweis gestellt.
An ihr konnte und musste man alles lieben. Ihre kumpelhafte, lustige Art, ihr reines Herz, ihren Familiensinn, ihre Kreativität und ihren Hang zu besonderen Fahrzeugen. Zum Verlieben war auch ihre quirlige Freundin und Mitbewohnerin Ilanit M.H., die heute ebenfalls sehr erfolgreich als Modedesignerin bei „Adidas“ im Headquarter in Herzogenaurach arbeitet.
Zu fürchten war lediglich Eikes großer pechschwarzer Hund, der bei jeder Gelegenheit wie ein weißer Hai die blutunterlaufenden Augen nach hinten rollte, die Zähne zeigte und sich bereit für einen mordlustigen Angriff machte. Er war es auch, der mich knurrend und fletschend begrüßte, als ich zum ersten Mal im Reifträgerweg die Klingel am Gartentor drückte, um mich Eikes Familie vorzustellen.
Gegenpole und Olga Purps
Ich begab mich damit auf eine Reise zum Gegenpol und machte die Entdeckung einer neuen, verlockenden Welt. Die Neumanns wohnen bis heute in der südwestlich gelegenen Berliner Nobelgegend am Schlachtensee – in einer Villa unweit der Wannsee-Gewässer im Ortsteil Zehlendorf. Ringsum befinden sich 54.000 Einwohner:innen, eine Pauluskirche, ein unglaublich schöner und schattenspendender Baumbestand mit Zehlendorfer Eichen, zwitschernde Vögel, die „Krumme Lanke“, die Bauhaussiedlung „Onkel Toms Hütte“, die S-Bahn-Station Schlachtensee, der Feinkostladen „Butter Lindner“, die „Spinnerbrücke“ sowie ein Gewirr aus Kopfsteinpflasterstraßen, deren charakteristischer Sound beim Befahren immer noch in meinen Ohren klingt.
Ich dagegen wohnte an der Grenze von Kreuzberg und Berlin Mitte, in der Nähe des Engeldamms, zwischen der einstigen Ost- und Westzone am ehemaligen Todesstreifen inmitten der Vorland- und Hinterlandmauer. Durch die vielen geschichtlichen Verwerfungen Berlins waren die Besitzverhältnisse etlicher Gebäude, Grundstücke und Wohnungen dort gänzlich ungeklärt.
Es ließ sich nach zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Diktaturen nicht so einfach feststellen, wem was gehörte – jenen, die während der NS-Zeit deportiert wurden oder jenen, die im Realsozialismus enteignet worden waren. Jedenfalls vergab die Stadtverwaltung in diesen Fällen sehr günstig Wohnraum mit der Auflage, diesen fachgerecht zu revitalisieren und sich gegebenenfalls mit den neuen oder alten Besitzer:innen selbst zu einigen.
In den Genuss dieser Konditionen zu kommen, hieß für mich, eine selbst ausgebaute, 39,5 Quadratmeter große Wohnung auf Zeit im dritten Stock eines sehr spärlich belebten Gebäudes mein Eigen zu nennen. Nur die schon sehr betagte Olga Purps und ich lebten darin in unterschiedlichen Stockwerken und Welten zum heutigen Preis von 102,26 Euro „warm“.
Die Wohnung hatte zwei Zimmer und eine „Küche“. In den Wohnräumen befanden sich ausgesprochen hässliche Kachelöfen aus der DDR-Produktion, die manchmal mit Holzpaletten von der Straße und Unrat beheizt wurden. In der langen und sehr schmalen Küche stand ein typischer Gasofen, der bei offenem Backrohr half, in diesem Teil der Wohnung etwas Behaglichkeit zu schaffen. Die kommunistischen Gemeinschaftstoiletten befanden sich unter dem Giebel des Hauses im fünften Stock. Allerdings fehlten dort Dachschindel und elektrisches Licht, dafür gab es jede Menge ätzenden Ratten- und Vogelkot und einen Ausblick auf den zerfurchten Berliner Himmel.
Ach du Scheiße!
Während der Benutzung der Toilettenanlage aus dem Jahre 1948 kam man wegen der widrigen Umstände rasch ins Träumen und Resümieren. Hier lag das DDR-Delphi für Kreml-Astrolog:innen. Der beißende Geruch und die Dämpfe der Tauben- und Rattenexkremente lösten ein unkontrolliertes Blinzeln aus, der Blick durch die zahlreichen, etwa 25 mal 25 Zentimeter großen Löcher im Dach erzeugte deshalb einen netten Kaleidoskop-Effekt. Wie eine Fruchtfliege besaß man für circa drei Minuten ein Facetten- oder Komplexauge, ehe die Bewusstlosigkeit drohte. In diesem Zeitraum erahnte man die Ohnmacht der städtischen Bevölkerung, als die Sowjetunion die Berlin-Blockade vorantrieb, um diesen Teil der Stadt auszuhungern. Ich sah durch das löchrige DDR-Dach die Bomber und Frachtmaschinen im 90-Sekunden-Takt in Tempelhof starten und landen. Ein großer Teil der Ladung bestand aus Brennstoffen, um die lebensnotwendige Versorgung vom 26. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 zu sichern.
Die Balken- und Sparrenkonstruktion meines Daches formte für mich den Unterbau der Berliner Luftbrücke. Ich konnte den amerikanischen Piloten Gail Halvorsen erkennen, wie er während des Anflugs auf Tempelhof Süßigkeiten aus den Cockpit-Fenstern warf, die mit Fallschirmen aus Taschentüchern versehen waren, und so den legendären Begriff „Rosinenbomber“ prägte. Ähnlich lange wie die Luftbrücke währte, benutzte ich diesen unheimlichen Ort für die Verrichtung meiner Notdurft.
Als ich eines Tages den deutschen Ex-Kanzler und Elder Statesman Helmut Schmidt, dem ich 2011 noch einmal persönlich begegnen durfte, von der großen Scheiße des Krieges sprechen hörte, wusste ich, dass etwas passieren muss.
Fallrohr und Auffangbecken
Ich beschloss, das Plastikfallrohr, das durch meine Küche verlief, anzuzapfen und eine moderne, freistehende Toilette zu installieren. Das hatte auch den enormen Vorteil, beim Kochen gemütlich auf dem geschlossen Klodeckel sitzend, die Speisen im Topf umrühren zu können. Der Spülkasten musste mit Wasser aus einem danebenstehenden Eimer nachgefüllt werden. Die Dusche mit einem Durchlauferhitzer, dessen Fassungsvermögen fünf Liter betrug, wurde von mir ebenfalls unprofessionell in der kleinen Kochnische gegenüber der Eingangstür eingebaut. Dieses Mixed-Use-Konzept führte bei häufig unangemeldeten Besuchen und einer konsequent nicht abgeschlossenen Haustüre zu delikaten Situationen mit Schaum auf dem Kopf. Einige Jahre teilte ich diesen bewohnbaren Luxus und die Miete mit einem von mir kurzerhand aufgenommenen Österreicher und seiner Berliner Freundin.
Dem Eigenheim-Traum zum Trotz wurde mein Zehlendorfer Sturmläuten glücklicherweise erhört und die Villa am Schlachtensee sollte für einige Jahre ein wärmendes Zuhause werden. Mein Hauptwohnsitz verlagerte sich unverhofft vom betonierten Stadtkern in die grüne Peripherie, mit Eike ging ich meine erste ernsthafte Beziehung ein. Ihre jüngere Schwester Silke wurde zu einer Freundin, Ilanit M.H. zu einer inspirierenden Mitbewohnerin, der Hund von Baskerville ein Weggefährte und Eikes Mutter, Frau Dr. Karin Neumann, zu einer der ganz wichtigen Weichenstellerinnen in meinem Leben.
Ihr Ehemann Dr. Götz Neumann war leider viel zu früh und völlig überraschend am Neujahrstag im österreichischen Urlaubsort Saalbach-Hinterglemm an einem Herzinfarkt verstorben. Er war aber durch Anekdoten, Erinnerungen, Fotos und Memorabilia im Alltag präsent. Konserviert wurde sein Andenken etwa in einer Blechschere, mit der er bei seiner Flucht aus der DDR den Stacheldraht durchzwickte und so in den Westen gelangte, noch bevor anstelle des Todesstreifens eine Mauer aufragte. Reminiszenzen lösten auch Bilder aus – Fotos mit Pfeife, Wind, Meer und Möwen, die auf dem eigenen Schärenkreuzer entstanden waren, einem in Schweden entwickelten Sportsegelboot, das sich optimal für die Ostsee eignete. Näher kam ich seinem Leben auch bei den vielen gemeinsamen Besuchen am Grab des Zehlendorfer Waldfriedhofs. Es lag übrigens in Sichtweite der letzten Ruhestätte Willy Brandts.
Über die Erlebnisse mit den Neumanns, über ihre Liebenswürdigkeit müsste ich eigentlich ein eigenes Buch schreiben, um darin alles festzuhalten, was ich im Hause Neumann lernte und wie ich davon bis heute profitiere. Frau Dr., wie ich sie noch immer voller Anerkennung nenne, konnte und kann einem viel über Mut und Zuversicht beibringen. Sie folgte ihrem Mann am 23. Februar 1963, Jahre nach seiner Flucht, illegal über die extrem bewachte innerdeutsche Grenze am „Checkpoint Charlie“ – versteckt im doppelten Boden eines VW-Käfers.
Nach ihrem Studium der Humanmedizin an der „Humboldt-Universität zu Berlin“ und an der „Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg“ baute sie eine der führenden HNO-Arztpraxen Deutschlands auf und zog als Witwe zwei kleine Kinder groß. Nebenbei machte sie die selbst erworbene Villa am Schlachtensee zu einer Rettungsinsel für Schiffbrüchige wie mich und zu einem Treffpunkt für jede Menge Prominente des alten Westberliner Schauspieladels.
Villenmeister
Hier konnte man etwa Günter Pfitzmann, Götz George oder Harald Juhnke begegnen und Brigitte Mira lauschen. Hier wurde mit illustren Gästen über Ethik, Architektur, Theater, Kunst, Politik, Geschichte, Technologie oder Medizin, über Träume und Hoffnungen gesprochen. In diesem Haus wurde niemals der moralische Zeigefinger erhoben und immer füreinander eingestanden. Hier wurde mir auf eindringliche Weise bewusst, wie intolerant ich doch als Outsider agiert hatte, obwohl ich stets vom Gegenteil überzeugt war. Hier lebte und liebte man die Hochherzigkeit und Großzügigkeit. Hier, im Hause Neumann, durfte ich erahnen, was in mir steckt, meine bequeme Rolle als Gesellschaftsopfer abstreifen und mit anpacken.
Als Villen-Meister erlebte ich glorreiche Jahre beim Rasenmähen und Blätterkehren. Beim Einkaufen und der Pflege des Schiffs. Beim Fußbodenlegen, Zimmerausmalen, bei Reparaturarbeiten, als Hüter des Kaminfeuers, als Dealer für die allerbeste Jause sowie beim Gassigehen mit der schwarzen Bestie.
Und, meine Träume formierten sich zu dieser Zeit neu und fokussierten mehr und mehr auf das Showbusiness und die kreative Wirtschaft. Letztere war gerade spürbar im Entstehen begriffen und wurde vom britischen Premierminister Tony Blair im Wahlkampf 1997 schließlich als „Creative Industries“ definiert, propagiert und mit Förderprogrammen ausgestattet.
Auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte, wusste ich doch instinktiv, dass ich von meiner kreativen Schaffenskraft leben wollte. Dass ich aber vom Punk mit No Future Attitude zum Gründungsdirektor der Tabakfabrik Linz, zum Nestroy Preisträger mit dem Theater Hausruck und zum Chief Visionary Officer für die CMb.industries GmbH werden würde, hätte ich mir damals wohl nur unter Einsatz von berauschenden Mittel erträumen lassen.
Auszug aus dem Buch „Achtet auf die Möwen“,
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