08 Mai Fabricator mundi
Ein Objekt ist nie nur ein Objekt – obgleich es natürlich über seine Funktionen beschrieben werden kann. Es darauf zu reduzieren, beschneidet seine Wahrheit.
Objekte sind immer unweigerlich mit Bezugspunkten in ihrer Geschichte verknüpft. Es wohnt ihnen eine Transzendenz inne, die sich in einer Überlagerung unterschiedlicher Be/Deutungsschichten manifestiert. Sie ist eine Mixtur aus der wirtschaftlichen Bedeutung, den persönlichen Erfahrungen, kollektiven Projektionen, symbolischer Strahlkraft, Lebensgeschichten, Wegmarken – politische, wirtschaftliche, evolutionäre, humanitäre. Die Wahrnehmung solcher Objekte wird von diesen Sichtweisen, den Deutungen und den unterschiedlichen Wahrheiten geprägt. Erst kürzlich zeigte sich etwa, dass das berühmte Otto-Wagner-Grün eigentlich ein Beige war. Was für uns heute Wiens Prägung ausmacht, war in seiner ursprünglichen Intention etwas völlig anderes. Wahr ist alles davon, der Rest sind Sehgewohnheiten und parallele Wirklichkeiten. Objekte sind immer auch Subjekte, daher muss man in deren Entwicklung sowohl „Sophia“ – die Erbin der Vergangenheit – als auch die „Philosophia“ – die den Entdeckungen der Zukunft zugewandten – bemühen.
Worin liegt die Wahrheit des Sehens und Erkennens?
Wahr ist nur das Ganze meinte einst Hegel. Das sind wir aber nicht im Stande wahrzunehmen. Unsere Wahrheit wird immer ein Ausschnitt und eine transzendente Überlagerung sein. Der „Schweinerei“ von Objektivität – wie es Joseph Roth bezeichnet – wollen wir uns gar nicht hingeben. Entlehnt aus der Medientheorie nach Wolfgang Donsbach könne die objektive Deskription ideologisch, funktionalistisch, konsensuell und/oder relativistisch erfolgen.
Ideologisch dient sie einem bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Ziel und stellt die „Realität“ so dar, wie sie aus dem Blickwinkel einer bestimmten Gesellschaftsideologie gesehen wird. Funktionalistisch bezieht es sich auf Berufsnormen und ihre Funktion. Konsensuell erfolgt eine maßstabsgerechte Verkürzung aller relevanten Dimensionen der gemeinsamen Wirklichkeitserfahrung und des gemeinsamen Sinnhorizonts. Relativistisch gesehen bezieht sich die Deskription auf eine Wunschvorstellung, manchmal sogar Utopie, der Welt.
Von objektiver Deskription zu sprechen ist tatsächlich Schweinerei. Und im Falle von Brownfield- und Greenfield-Entwicklung nicht dienlich. Einer positivistischen Deskription nach wahr und falsch taugt allenfalls für eine Inventarliste, allerdings keinem erkennenden Sehen und ist unfähig die Transzendenz historischer und emotionaler Verankerungen zu erfassen. Der oben dargestellten Deskription in einer Mischung folgend, soll der nächste Schritt – frei nach Imdahl – die Rekonstruktion und darauf basierend die Interpretation erfolgen. Imdahl folgt einem dialektischen Dreischritt von Ikonographie (wiedererkennendem Sehen), Formanalyse (sehendem Sehen) und Ikonik (erkennendem Sehen). Damit wird beabsichtigt unterstellt, dass hermeneutische und strukturelle Interpretationsweisen im Sinne einer Bedeutungs- und Sinnanalyse miteinander verknüpft werden können.
„Wenn die Menschen das Träumen verlernen würden, wäre das der Untergang der Zivilisation“ Thomas Macho
So wie die Anmaßung der Objektivität als Schweinerei zu bezeichnen ist, verhält es sich auch mit Nivellierung von Immobilienentwicklung nach den mindersten Funktionen. Gleichförmigkeit ist der Tod der Leidenschaft. Ein kleiner Sidestep in die Welt der vermeintlich schönen Oberfläche sei gestattet: Es wurde empirisch erwiesen, dass übertrieben ästhetisierte und nach gleichen Maßstäben korrigierte Models keine sexuellen Fantasien und keine erotischen Träume evozieren. Das glatte Erscheinen lässt auch Emotionen abperlen. Erst das Aufladen mit Narrationen macht Models attraktiv, interessant und begehrenswert. Gleichförmigkeit kastriert unseren Geist.
Das Musée des Confluences von Coop Himmelb(l)au in Lyon – der wahrgewordene Alptraum eines jeden Controlling-Instruments, das nur einen Wert zu vermessen mag, ist gleichwohl ein strahlendes Symbol von Kreativität und Identität, ein Landmark, das Bewohner:innen stolz macht, Besucher:innen in ihren Bann zieht und als mächtige Ikone hinter den TV-Reporter:innen prangt, die aus der französischen Stadt berichten. Eine ähnliche Fiskal-Odyssee hat die Sydney Opera oder der Eiffelturm hinter sich. Wer weiß das heute noch? In ausführlicheren Reiseführern liest man wenige Zeilen darüber. Was bleibt ist das Symbol, die Pilgerstätte und die Verhaftung in der Weltgeschichte.
Fabricator mundi / Homo Formandi
Créateure der Immobilienwirtschaft sind keine funktionalistischen homo oeconomicusse. Dürfen sie auch nicht sein. Sie würden sich und ihr Denken von vornherein beschneiden. Ihre Arbeitsweise lässt sich eher als eine Mischform zwischen Homo Ludens und Homo Faber (im anthropologischen Sinn – nicht im Sinne von Max Frisch) beschreiben. Letzterer ist in seiner Übersetzung etwa der „schaffende Mensch“ oder „der Handwerker“, der in dieser Eigenschaft ein aktiver Veränderer seiner Umwelt ist. Der Homo Ludens zeichnet sich durch seinen Spieltrieb aus, durch das er Fähigkeiten schärft und/oder entdeckt als auch entwickelt. Das Spiel gestaltet er durch die Freiheit seines Denkens.
Die Beschreibung der Arbeit von Créateuren geht allerdings noch weiter und erschöpft sich in keinem der beiden Begrifflichkeiten. Ein Créateur ist vielmehr ein Fabricator Mundi – ein Weltenerbauer. Ihm obliegt die Spielfreude des Homo Ludens und der Gestaltungsdrang des Homo Faber, jedoch am Beginn seiner Arbeit steht abermals die Transzendenz. Nach dem oben erwähnten dialektischen Dreischritt von Ikonographie, Formanalyse und Ikonik positioniert er das Objekt neu in Raum, Zeit, Funktion und Kollektiv. Das Objekt wird zum Subjekt. In der Umdeutung wird zunächst die Vision gestaltet, die in der Zukunft spielt, aber die Vergangenheit behandelt. Sie zeigt, welche Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle, Berührungspunkte man künftig mit dem Objekt gehabt haben wird.
Die neue Wahrheit wird in der Überlagerung dessen geschaffen, was wird man an diesem Ort wahrgenommen, erlebt, gesehen, gerochen, gefühlt haben. Welche Lebensphase wird sich dort entscheiden. Welcher Einfluss wird dort genommen werden. Wie wird die Welt diesen Ort erkennen. Welche Selfies werden dort geschossen werden und welche Instagram Stories gestartet? Die Überlagerung schafft Innovation mit neuer Syntax und kreiert neue Werte und Welten. Aus der griechischen Mythologie wissen wir: Mythen werden aus der Überschreitung von Orten, Gattungen, Möglichkeiten oder Fähigkeiten durch technische Lösungen geschaffen. Der Fabricator Mundi gebiert einen Mythos, dessen man Teil werden will. Der Part der finanziellen Abbildbarkeit ist nachgelagert. Auch der Fiskalpart verfügt über kreativen Spielraum und dient der Machbarkeit von Utopien. Ökonomische Berechnungen sind an der Maxime der Ermöglichung angelegt – nicht umgekehrt.
Frei nach Nikolai Fjodorow ist das Universum das Projekt, für dessen Gelingen wir alle gleichermaßen in der Verantwortung stehen. Dazu braucht es Fantasie und kreative Energie. Es braucht Künstler und Ingenieure, Zukunftslabore und Bildungsstätten, die Kunst und Leben kombinieren. Fabricateure Mundi kennen keine promethische Scham. Wir Menschen sind nicht gemacht, wir sind geworden. Dessen wohnt ein großer Schatz inne. Wir müssen Muße-Bedingungen wie auch jede andere Lebensbedingung, aktiv schaffen – für Créateure und künftige Konsumateure.