Im Visier! Motorcycle Diaries # Folge 1: Der Akkordeon-Spieler

In der Blogserie „Im Visier“ berichte ich in Etappen über menschliche Höhenzüge, gesellschaftliche Straßenschäden, wirtschaftliche Schnellstrecken, technologische Entwicklungen, weltpolitische Stunteinlagen, persönliche Kurvenkombinationen, Begegnungen in Leder und wunderbare Boxenstopps.

IM VISIER! # Folge 1 Der Akkordeon-spieler von Carinthia und die Kirche der künstlichen Intelligenz.

Bei 33 Grad überquerte ich auf meinem Triumphzug nach Italien „die Windische“.

Diese Passhöhe liegt auf 1110 Meter über der Adria, an der Grenze zwischen den Gemeinden St. Stefan und Paternion in Kärnten. Hier treffen die Bezirke Villach-Land und Hermagor zusammen, wodurch der Ort, obwohl er nur aus drei Häusern und einer Kirche besteht, auf zwei Bezirke aufgeteilt ist. 

Bevor es vom Höhepunkt des Scheitels wieder runtergeht, bemerkte ich eine versteckte kleine Kirche im Wald. Die Glocken riefen zum Halt. Der Anblick versprach Ruhe und Schatten.

Der Motor verstummte, die Lederkombi ging mit meiner Haut eine nass-salzige Liaison ein. Anschwellend hörte ich auf dem Fußweg zur Kirche St. Anton Musik.

Hinter der Eingangstür öffnete sich eine wunderbare Welt in blau, rot, gold und beige. Ein Kirchenraum aus Gast- und Geistlichkeit. Vor dem Altar saß ein Kärntner Original, das sich in sein Ziehharmonikaspiel vertiefte, der Sound war herrlich, die Lieder ländlich. Der Teppich rot, der Boden Stein, aus Holz der Altar. Atmosphäre. Elysium.

Das Spiel lullte mich ein, mein Körper erholte sich, mein Geist fasste sich. Kontemplation. 

Versunken inmitten von Kirchenbänken lauschte ich eine knappe Stunde den Liedern über eine scheinbar einfachere, versunkene Zeit. Volkslieder über Gott, Berge, Menschen, Arbeit, Liebe und Heimat. Geografie ist Schicksal. Ganz sicher auch Technologie.

Dieses wunderbare Setting lies mich in der Vertiefung über die gerade am Höhepunkt befindliche Debatte über KI und die Gesellschaftlichen Folgen nachdenken.

Wie, wird sich die globale Gesellschaft gleich hinter der Gegenwart entwickeln, wenn wir uns einer monotheistischen Technologie wie der Künstlichen Intelligenz zuwenden?

Was, wenn wir, Technologie in Theologie wandeln, wie Wein zu Wasser? 
Und Trinität zu Digitalität?

Wir wissen noch nicht, wie sie sich genau entfalten wird, aber eines ist klar: die Antwort darauf ist allumfassend und konzertiert, alle Stakeholder des globalen Gemeinwesens, vom öffentlichen über den privaten Sektor bis hin zur akademischen Welt und der Zivilgesellschaft sind einbezogen. In ihrem Ausmaß, ihrer Reichweite und ihrer Komplexität wird es sich bei dieser Transformation jedenfalls um eine noch nie erlebte Erfahrung handeln.

Halten sich Schrecken und Potenziale noch die Waage? Ist die Technologie eine Selbstverfluchung oder die Künstliche Intelligenz menschengemachter Segen?

Wir werden sehen. Besser noch, wir handeln. Im Sinne des Digitalen Humanismus.

Unter den Klängen von „Pfiat Gott, liabe Alm“ wurde mir ein Sakralbau in Spanien ins Gedächtnis gerufen. Eine profanisierte Kirche in Barcelona namens Torre Girona. Im Mittelpunkt des Campus der Polytechnischen Universität von Katalonien situiert. Der Wissenschaft gewidmet. Umgeben von glatten Mauern und tausenden Studierenden befindet sich im Inneren der wunderschönen Andachts-Architektur aus dem Jahre 1800 eine ultimative Rechenmaschine wie sie von Gottfried Wilhelm Leibniz erfunden worden scheint um Gott durch eine Formel zu beweisen.

Ein Supercomputer hinter 5 Meter hohem Glas, als sichtbarer, funkelnder und denkender Kirchenkern, der den Namen MareNostrum trägt. MareNostrum, unser Meer! Der Name geht auf die von den Römern geprägte Bezeichnung für das Mittelmeer zurück und soll hier im übertragenen Sinne für die zentrale Rolle des Systems der Wissenschaft stehen. Auf Leibniz geht das für den Superrechner notwendige duale Zahlensystem im Sinne der Schöpfung zurück: Für das Nichts die Null, für Gott die Eins.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2017_BSC_Superordenador_MareNostrum-4_Barcelona-Supercomputing-Center.jpg

Er, Leibniz, war wohl der erste Nerd der Menschheitsgeschichte und Finder des binären Codes. Ein universelles Passwort für theologisch-philosophische und mathematische Weltdeutungen. Der Supercomputer MareNostrum ist für die Forschung in den Bereichen Biowissenschaften, Meteorologie und Umweltwissenschaften vorgesehen.

MareNostrum, so dachte ich, ist ein Paradebeispiel dafür, wie erfolgreich sich heutzutage aus Standard-Hardware und freier Software-Hochleistungsrechner bauen lassen und als Cluster organisiert sind.

So kann ein sinnvoller Umgang mit wunderbarer Kirchenarchitektur gelingen, die leider oft nicht mehr als solche genutzt werden. KI also auch im Sinne von Kirchen-Intelligenz. Vielleicht ein Weg, wie wir die Kraft von Daten und Technologie für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen können.

Schlussakkord.

Die Musik verstummte. Blicke trafen sich. Worte und Müsliriegel tauschten die Besitzer. Labsal für Körper und Seele. Klarsicht, das Visier gereinigt.

Weiter ging es Richtung Mittelmeer, ein Triumphzug.