Im Namen der Humanität: Ein Stadt­-Quartier für alle!

Was wir von den Gründervätern des Otto Wagner Areals lernen und für die Transformation desselben beherzigen müssen.

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Weggefährtinnen und Weggefährten,

in einem der vorangegangenen Blogbeiträge habe ich davon berichtet, dass ich nunmehr dazu beitragen darf, am Otto Wagner Areal (kurz: OWA) auf den Hügeln im Westen Wiens eine blühende Zukunft zu kreieren. Gemeinsam mit den engagierten und kompetenten Kräften der Otto Wagner Areal Revitalisierung GmbH werde ich in den kommenden Jahren an der Transformation einer Stadt in der Stadt arbeiten und sie von einem öffentlichen Ort der Gesundheitsvorsorge, der Rekreation und Heilung in einen öffentlichen Ort der wissenschaftlichen, künstlerischen und unternehmerischen Kreation und Produktion verwandeln helfen.

Dafür ist es notwendig, sich mit der bewegten Geschichte des Areals und mit den Intentionen seiner Gründerväter auseinanderzusetzen. (Von den „Gründermüttern“, also jenen zahlreichen Frauen, die in der Betreuung der Kranken und Leidenden sowie in den am Areal befindlichen Wirtschaftsbetrieben das Funktionieren der für den Beginn des 20. Jahrhunderts hochmodernen Heil- und Pflegeanstalt sicherstellten, hat unsere Nachwelt leider viel zu wenig erfahren).

„Für die Ärmsten das Schönste!“

Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Wissenschaft und Gesellschaft die Ansicht durchgesetzt, psychisch kranke Menschen nicht einfach zu isolieren oder gar wegzusperren, sondern sie in einem Ambiente unterzubringen, das ihre Heilungschancen und somit den Nutzen für die Allgemeinheit erhöht – von der Luftgüte im Wiener Grüngürtel bis zur weitläufigen Parklandschaft. Der klinische Blick wurde um eine gesellschaftliche und eine humanitäre Dimension erweitert. Davon zeugt eines der auffälligsten Gebäude des Areals: das von Otto Wagner geplante Gesellschaftshaus, besser bekannt als das Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe. Es liegt auf der zentralen Erschließungsachse des Geländes und stellt gleichsam die künstlerische Mitte zwischen dem Verwaltungsgebäude am Eingang des Areals und dem berühmten Kuppelbau der Kirche St. Leopold am Steinhof dar.

Das Gesellschaftshaus präsentiert sich als opulent gestalteter, einem italienischen Palazzo nachempfundener Bau, dessen Jugendstilarchitektur sich barocker und Rokoko-Gestaltungselemente bedient. Zugleich ist es ein höchst funktionales, auch heute noch problemlos bespielbares Veranstaltungs- und Theatergebäude. Es diente als gediegener Ort der Erbauung, Unterhaltung und Zerstreuung: in erster Linie den Patientinnen und Patienten, den Leidenden und Duldenden, die in den Pavillons ringsum auf Gesundung an Leib und Seele hofften. Für das ärztliche Personal, das den Darbietungen auf der Galerie folgte, bestand kein Zweifel: Theater, Musik, Literatur und die Noblesse des Gebäudes selbst seien der umfassenden Gesundung ihrer Klientel förderlich. „Den Ärmsten das Schönste!“, so die Maxime Otto Wagners und anderer visionärer Gründerväter. Möglich wurde dies auch, weil die Heil- und Pflegeanstalt auf der Baumgartner Höhe für alle (!) gesellschaftlichen Schichten gedacht war. Die Einnahmen aus dem Sanatorium für die finanziell Bessergestellten wurden gewissermaßen in jene Pavillons umgeleitet, wo man die weniger Begüterten pflegte.

Modell des Theaters aus der Modellwerkstatt von Robert Hutfless am Otto Wagner Areal
Mutig in neue Zeiten

Die Heil- und Pflegeanstalten am Steinhof beendeten das Zeitalter der Irrenhäuser und Narrentürme auf eine Weise, die in Dimension, Qualität und Innovation Weltruf genoss. Das Pavillonsystem entsprach der spezifischen Behandlungsnotwendigkeiten unterschiedlicher Krankheitsbilder. Für die Anwendungsmöglichkeiten des damals neuen Baustoffs Eisenbeton gibt das Jugendstiltheater mit der beachtlichen Spannweite seiner Saaldecke ein frühes Musterbeispiel.

Die Visionen der Projekt(be)treiber mussten sich vor und während der Bautätigkeit an viel Widerstand reiben: Leopold Steiner, christlich-sozialer Politiker und Mastermind des Großbauvorhabens, gelangen zwar binnen weniger Tage 110 günstige Grundankäufe [Plakolm-Forsthuber, S. 50], trotzdem musste er sich mit Geldverschwendungsvorwürfen auch aus der eigenen Partei auseinandersetzen. Die Planer hatten ebenfalls einige Breitseiten zu erdulden; in seiner Eröffnungsrede am 8. Oktober 1907 kritisierte Thronfolger Franz-Ferdinand öffentlich Otto Wagners Architektur. Aufgrund der heute unvorstellbaren Arbeitsbedingungen – 12-Stunden-Fron inklusive Sandsteinbruch vor Ort – kam es auch zu Streiks der Bauarbeiter und später der Glaser. Dennoch schafften es bis zu 5.000 Werktätige auf der Baustelle, dass die Heil- und Pflegeanstalten in gut zweijähriger Bauzeit aus den Hügeln der Vorstadt schossen.

Die Fundamente der „Inklusion“ und der „Mitmenschlichkeit“, auf denen die Heil- und Pflegeanstalten am Steinhof erbaut worden waren, erwiesen sich auch nach den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs und während der Hochblüte des Roten Wiens als tragfähig, ehe sie dem nationalsozialistischen Wüten gegen das „unwerte Leben“ zum Opfer fielen.

Dem Wahnsinn der Welt die Stirn bieten

Der berühmte Schriftsteller Joseph Roth nannte die Heil- und Pflegeanstalten am Steinhof in einer 1919 publizierten Reportage „eine Insel der Unseligen“, „eine Gartenstadt der Irrsinnigen“ und „einen Zufluchtsort an dem Wahnsinn der Welt Gescheiterter“. Ein gutes Jahrhundert später steht das Areal mit Pavillons und Parklandschaft, mit Theater, Kirche und zahlreichen Funktionsbauten vor einem erneuten Spatenstich. Hier kann eine Transformation beginnen, die jener der Erbauung der Heil- und Pflegeanstalten gleichkäme. Die Vision: eine Insel für alle, eine Gartenstadt der Kreativen, ein Ort der Begeisterten, die dem Wahnsinn der Welt die Stirn bieten. Die Zutaten: Mut, Weitblick, Geduld – und ein gemeinsames Wollen von Politik, Verwaltung und den kreativen Kräften in dieser Stadt und in diesem Land. So wie es die Gründerväter der Heil- und Pflegeanstalten am Steinhof vorgelebt haben. Ihrer Wiener Melange aus Großzügigkeit, Beharrlichkeit und einem Sinn für konsensuale Lösungen im Detail verdanken wir, dass wir 107 Jahre nach Eröffnung des Areals mit so viel qualitätsvoller Substanz eine Neubelebung der Stadt in der Stadt wagen können.

Das nunmehrige Otto Wagner Areal soll sich in eine Heilanstalt für die Welt und ihre Schieflagen verwandeln. Ein Projekt von wahrhaft europäischer Dimension, weil es um die Verbindung zwischen Wissenschaft und Forschung, Kunst und unternehmerischer Kreativität im Zeichen von Humanität und Aufklärung geht. Eine Verbindung, die darauf fußt, dass sich Menschen ihres Verstandes ohne die Anleitung anderer bedienen, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ formuliert hat. Eine Verbindung, die Europa meiner tiefsten Überzeugung nach stärker macht, als es das weltweite Zunehmen autoritärer Gesellschaften oder ein entmündigender Techno-Kapitalismus vermuten lassen.

In diesem Sinne möchte ich die Neubesiedlung des Otto Wagner Areals vorantreiben und freue mich auf alle, die dieses Programm teilen oder Teil dieses Programms werden wollen.

Modellwerkstatt

Die Bilder in diesem Blogbeitrag stammen aus der wundervollen Werkstatt von Robert Hutfless. Seit 1996 gibt es am Otto Wagner Areal Dank der Energie und Beharrlichkeit von ihm und seinen Kolleg:innen ein Vorzeigeprojekt, das weit über Wien hinausstrahlt. Die Modellwerkstatt am Steinhof ist ein Beschäftigungs- und Arbeitsprojekt für Menschen mit einer Suchterkrankung, die wieder eigenverantwortlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen.

Jetzt OWA nie!

Pioniere, Interessierte und Entdecker:innen aufgepasst: Wer plant, mit seiner Organisation nach Wien zu gehen, ein Unternehmen zu gründen und dafür den perfekten Ort sucht, der findet mich für die Kontaktaufnahme und einen Lokalaugenschein unter cm@chrismueller.at

Quellen:

  • Caroline Jäger-Klein, Sabine Plakolm-Forsthuber (Hrsg.): Die Stadt außerhalb, Basel 2015
  • Mildred-Michèle Joerg-Ronceray: Ein besonderes Haus – Das Jugendstiltheater am Steinhof, Masterarbeit an der Universität Strasbourg, 2019
  • Nina-Maria Waltraud Jakob: Otto Wagner Areal am Steinhof, Diplomarbeit an der TU Wien, 2020
  • Sophie Ledebur: Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien, Dissertation an der Universität Wien, 2011